Schreibwetter?

Vorhin ging ein Regenguss nieder, den ich in unseren Breitengraden lange nicht für möglich gehalten hatte. Schwer und schnurgerade, als hätte jemand über mir eine volle Wanne Wasser umgekippt. Ich stand sprachlos vor dem Fenster, gottseidank im Trockenen. So etwas kenne ich nur aus den Tropen. Eine wärmere Variante natürlich. Und während ich noch über dieses Phänomen den Kopf schüttle, fühle ich mich zurückversetzt auf den Hotelbalkon im letzten Urlaub und blicke wieder mit offenem Mund auf den tropischen Regen, der die großblättrigen Pflanzen niederdrückt.  

„Das ist doch prima Wetter, um zu schreiben!“

Ähnliche Tipps lese ich in sozialen Netzwerken regelmäßig, wenn ein Wetterwechsel angekündigt ist. Meistens am Freitag, nachdem der Wettertyp im Fernsehen ein Wochenende in nassem Grau-in-Grau prophezeit hat. Ist Ihnen auch aufgefallen, dass die dunklen Wolken im Wetterbericht seit neuestem apokalyptisch aussehen? Ich glaube, das Team setzt auf Zweckpessimismus. Kaum einer würde sich beschweren, wenn das Wetter doch besser ist als angekündigt. Oder liegt die neue Optik daran, dass ich das Erste nicht gut reinkriege? Aber viel wichtiger:

Gibt es das? Schreibwetter?

Für mich und mein zweitliebstes Haustier, den Schweinehund, kann ich das schnell und eindeutig beantworten: Es ist uns ziemlich egal, ob es regnet oder brütet, stürmt oder schneit. Wir finden passende Ausreden für jede Wetterlage. Andererseits kennen wir beide den hochkonzentrierten Schreibfluss, der sich einstellt, sobald ich den Einstieg in eine Geschichte geschafft habe. Der Schweinehund weiß, dass er Pause hat, wenn der Funke gezündet ist. Er schläft dann ohne einen Mucks neben mir, wie im Moment mein alter Kater.

Gibt es eine Wetterlage, die für den Geistesblitz sorgt?

Darüber muss ich bei Gelegenheit genauer nachdenken. Tatsache ist, dass ich gerne saisonal schreibe. Frisch inspiriert, die Geschichten fallen mir genau passend zur Jahreszeit ein. Im Sommer trägt die Heldin Flipflops und verzehrt genüsslich einen großen Becher Vanilleeis, im Winter kämpft sie sich auf High Heels durch den Schnee, um ihrem Verfolger zu entgehen. Umgekehrt finde ich es immer noch ordentlich anstrengend. Wenn ich jetzt eine Geschichte schreiben müsste, in der dem Helden die Hände einfrieren, hätte ich Sorgenfalten auf der Stirn. Oder ich müsste meine Nase für das Feeling ins Gefrierfach halten. Und wie ist es im Moment? Bei schweren Regengüssen im Sommer? Ich höre und sehe es vor mir: Sie (Name fehlt noch) lauscht in den Armen des Liebsten im Hotelbett auf den Seychellen dem Tropenregen. Die langen Fühler der großen Kakerlake an der Wand sieht sie noch nicht …

Aber was wäre, wenn ich jetzt über die Wüste schreiben müsste?

Oder über den Kerl, dem die Finger einfrieren? Richtig professionell? Dafür habe ich mein Notizbuch, wie jede Schreibende. Ich setze mich jetzt gleich hin, bevor die Sonne wieder scheint und notiere meine Gedanken zum tropischen Regenguss. In warmer und in mitteleuropäischer Variante. Sollte ich im nächsten harten Winter ein tropisches Setting brauchen, mixe ich mir einen Cocktail und bin bereit.

Ihre Ingrid Haag

Foto: privat

(Der Artikel erschien im Blog der 42erAutoren.)

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