Ich weiß, wo ich am Tag der Katastrophe von Tschernobyl war, habe ein Bild vor Augen, glaube sogar zu wissen, welches Kleid ich anhatte. Aber die Erinnerung täuscht mich. Es war kein Sommertag, sondern der 26. April 1986. Ich lebte in Regensburg im östlichen Bayern, und das Kleid trug ich vielleicht an einem der Tage, in denen die radioaktive Wolke aus der Ukraine über uns hinweg zog. Wir verfolgten die Berichte in den Nachrichten, sahen die Bilder, lernten, welche Halbwertszeit Cäsium 137 und Strontium 90 haben, und dass wir vorerst auf Wildfleisch und Pilze verzichten sollten. Und auf Milch, wenn ich mich richtig erinnere. Klingt schrecklich naiv. Welche Folgen wir wirklich tragen, werden wir vermutlich nie erfahren. Würde ich an Tschernobyl denken, wenn ich eine Krebsdiagnose hätte?
Um die Reaktorkatastrophe, den Super-GAU, dreht sich die preisgekrönte fünfteilige amerikanisch-britische Fernsehserie Chernobyl. Sie macht das monströse Geschehen anhand von Einzelschicksalen unheimlich greifbar. Und greifbar unheimlich. Ich hatte die bedrückenden Bilder noch im Kopf, als ich Alles Stehende verdampft las, das Romandebüt des irischen Autors Darragh McKeon. Er verfolgt einen ähnlichen Ansatz, erzählt anhand des Schicksals einzelner Menschen, was während und nach der Katastrophe geschah.
Ich lernte Artjom kennen, den dreizehnjährigen Bauernsohn aus Weißrussland, der entdeckt, dass den Kühen auf dem Feld das Blut aus den Ohren läuft und Vögel vom Himmel fallen. Seine Familie, die zwangsevakuiert wird, aber in der Stadt nirgendwo Unterschlupf findet, weil die Evakuierten als vergiftet gelten. Den Moskauer Chirurgen Gregori, der ins Katastrophengebiet abgeordnet wird, als er bei der Partei in Ungnade fällt. Gregoris Ex-Frau, die Dissidentin Maria, und ihren Neffen Jewgeni, das Klavierwunderkind. Die Katastrophe führt sie zusammen und verändert ihr Leben unwiderruflich.
Eindringlich erzählt Darragh McKeon über die Evakuierungen, über Dörfer, die komplett abgerissen, und Tiere, die präventiv getötet und verscharrt werden. Über die Liquidatoren, Tausende junger Soldaten, die dorthin geschickt werden, wo Maschinen der Strahlung wegen nicht mehr funktionieren. Über die Sowjetunion, die Großmacht, die keine Fehler zugeben und keine Hilfe aus dem Ausland annehmen kann.
Weder der Film noch das Buch stammen von Russen oder Ukrainern, aber sie führen sehr authentisch und eindringlich vor Augen, wie unfassbar nahe wir dem Abgrund waren. Welch wahnsinniges Monster die Atomkraft ist und wie naiv der Mensch, der glaubt, sie in Schach halten zu können.
Lesen Sie dieses Buch. Und schauen Sie am besten auch die Serie.
Manche Pilzarten weisen übrigens heute noch eine stark erhöhte Radioaktivität auf. Die Halbwertszeit von Cäsium 137 liegt bei dreißig Jahren.
Ihre Ingrid Haag
(Der Beitrag erschien am 18.03.2020 im Blog der 42erAutoren.)
Foto: Pripyat, Amort1939 bei Pixabay